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Carmina Burana

Kapitel 191

1

Estuans intrinsecus ira vehementi in amaritudine loquor mee menti.

Brennend im Innern vor heftigem Zorn, spreche ich mit Erbitterung zu meinem Herzen.

3

factus de materia levis elementi folio sum similis, de quo ludunt venti.

Aus dem Stoff des leichten Elements bin ich gemacht, dem Blatt bin ich gleich, mit dem die Winde spielen.

5

Cum sit enim proprium viro sapienti, supra petram ponere sedem fudamenti,

Während es des weisen Mannes Art ist, auf den Fels sein Fundament zu setzen,

7

stultus ego comparor fluvio labenti, sub eodem aere numquam permanenti.

bin ich Dummkopf dem dahintreibenden Flusse gleich, der niemals unter dem selben Himmel bleibt.

9

Feror ego veluti sine nauta navis, ut per vias aeris vaga fertur avis;

Ich werde dahingetragen wie ein Boot ohne Steuermann, wie auf luftigen Wegen ein Vogel getragen wird;

11

non me tenent vincula, non me tenet clavis, quero mei similes et adiungor pravis.

mich hält keine Fessel, mich hält kein Schlüssel, ich suche meinesgleichen und zähle mich zu den Schlechten.

13

Michi cordis gravitas res videtur gravis, iocus est amabilis dulciorque favis.

Mir scheint dem Herzen der Ernst viel zu schwer, der Scherz ist mir angenehm und süßer noch als Honig.

15

quicquid Venus imperat, labor est suavis, que numquam in cordibus habitat ignavis.

Was Venus auch befiehlt, das ist ein angenehmer Dienst, da sie in trägen Herzen niemals wohnt.

17

Via lata gradior more iuventutis, implico me vitiis immemor virtutis,

Ich schreite auf dem breiten Weg nach Sitte der Jugend, ich verstricke mich in Laster ohne Rücksicht auf die Tugend,

19

voluptatis avidus magis quam salutis, mortuus in anima curam gero cutis.

nach Lust begierig mehr als nach dem Heil, bin ich in der Seele tot und lasse es mir gut gehen.

21

Presul discretissime, veniam te precor, morte bona morior, dulci nece necor,

Du erhabenster Bischof, ich bitte dich um Nachsicht, ich sterbe einen guten Tod, ich werde getötet durch einen süßen Tod,

23

meum pectus sauciat puellarum decor, et quas tactu nequeo, saltem corde mechor.

die Liebreiz der Mädchen verwundet mein Herz, und mit denen, die ich nicht vernaschen kann, treibe ich wenigstens im Herzen Ehebruch.

25

Res est arduissima vincere naturam, in aspectu virginis mentem esse puram;

Es ist überaus schwer, die Natur zu überwinden, beim Anblick eines Mädchens reinen Sinnes zu bleiben;

27

iuvenes non possumus legem sequi duram leviumque corporum non habere curam.

wir jungen Männer können keine strengen Vorschriften einhalten und die geschmeidigen Körper unbeachtet lassen.

29

Quis in igne positus igne non uratur? Quis Papie demorans castus habeatur,

Wer wird nicht verbrannt, wenn er im Feuer steht? Wer kann als keusch bestehen, der in Pavia verweilt,

31

ubi Venus digito iuvenes venatur, oculis illaqueat, facie predatur?

wo Venus mit dem Finger die jungen Männer jagt, mit Augen sie in Schlingen lockt, mit dem Gesicht zur Beute macht?

33

Si ponas Hippolytum hodie Papie, non erit Hyppolytus in sequenti die.

Wenn du Hippolytus heute zur Brücke Pavias bringst, wird er daraus folgend morgen kein Hippolytus mehr sein.

35

Veneris in thalamos ducunt omnes vie, non est in tot turribus turris Alethie.

Alle Wege führen in das Schlafgemach der Venus, unter so vielen Türmen hat die Tugend keinen Turm.

37

Secundo redarguor etiam de ludo, sed cum ludus corpore me dimittit nudo,

Im zweiten Kapitel hält man mir das Spiel auch vor, aber wenn das Spiel mich mit nacktem Körper gehen lässt,

39

frigidus exterius, mentis estu sudo; tunc versus et carmina meliora cudo.

dampfe ich, nur außen kalt, von der Glut des Geistes, und schmiede die besten Verse und Lieder.

41

Tertio capitulo memoro tabernam: illam nullo tempore sprevi neque spernam,

Im dritten Kapitel gedenke ich der Schenke: Die habe ich zu keiner Zeit verschmäht, noch werde ich sie je verschmähen,

43

donec sanctos angelos venientes cernam, cantantes pro mortuis: "Requiem eternam."

bis ich die heiligen Engel kommen sehe, die für die Toten singen: "Ewige Ruhe".

45

Meum est propositum in taberna mori, ut sint vina proxima morientis ori;

Mein Vorsatz ist es, in der Schenke zu sterben, damit der Wein dem Mund des Sterbenden ganz nahe sei;

47

tunc cantabunt letius angelorum chori: "Sit Deus propitius huic potatori."

dann werden freudiger die Engelschöre singen: "Gott sei gnädig diesem Trinker."

49

Poculis accenditur animi lucerna, cor imbutum nectare volt ad superna.

Mit den Bechern wird das Licht des Geistes angezündet, das Herz fliegt vom Nektar getränkt zu den Sternen.

51

michi sapit dulcius vinum de taberna, quam quod aqua miscuit presulis pincerna.

Mir schmeckt der Wein aus der Schenke süßer als der, den der Mundschenk des Priesters mit Wasser mischte.

53

Loca vitant publica quidam poetarum et secretas eligunt sedes latebrarum,

Manche Dichter meiden öffentliche Orte, und sie wählen abgesonderte Plätze im Verborgenen aus,

55

student, instant, vigilant nec laborant parum, et vix tandem reddere possunt opus clarum.

sie bemühen sich, plagen sich, wachen und arbeiten nicht wenig, am Ende können sie kaum ein berühmtes Werk abliefern.

57

Ieiunant et abstinent poetarum chori, vitant rixas publicas et tumultus fori,

Sie fasten und enthalten sich, die Scharen der Poeten, meiden den Zank des Volkes und das Gewühl des Marktes,

59

et ut opus faciant, quod non possit mori, moriuntur studio subditi labori.

und um ein Werk zu schaffen, das unsterblich wäre, sterben sie vor Mühe unterjocht von der Arbeit.

61

Unicuique proprium dat Natura donum: ego versus faciens bibo vinum bonum,

Einem jeden gibt die Natur seine eigene Gabe: Ich trinke, wenn ich Verse mache, guten Wein,

63

et quod habent purius dolia cauponum; vinum tale generat copiam sermonum.

und was die Fässer der Wirte an Reinstem enthalten; solcher Wein bringt der Worte ganze Fülle hervor.

65

Tales versus facio, quale vinum bibo, nihil possum facere nisi sumpto cibo;

Verse mache ich von der Art, wie der Wein beschaffen ist, den ich trinke, nichts kann ich machen, wenn ich nicht eine Speise aufgenommen habe;

67

nihil valent penitus que ieiunus scribo, Nasonem post calices carmine preibo.

es ist nichts wert, was ich nüchtern schreibe, nach dem Trinken werde ich sogar Ovid im Dichten übertreffen.

69

Michi nunquam spiritus poetrie datur, nisi prius fuerit venter bene satur;

Mir wird nie der Geist der Poesie verliehen, wenn der Bauch nicht vorher gut gesättigt worden ist;

71

dum in arce cerebri Bacchus dominatur, in me Phebus irruit et miranda fatur.

wenn in der Festung des Hirns Bacchus (Gott des Weines) die Herrschaft hat, kommt Phoebus (Apoll) über mich und vollbringt Wunder.

73

Ecce meae proditor pravitatis fui, de qua me redarguunt servientes tui.

Schau, ich war der Offenbarer meiner eigenen Verdorbenheit, deren deine Diener mich anklagen.

75

sed eorum nullus est accusator sui, quamvis velint ludere seculoque frui.

aber von diesen ist keiner ein Ankläger seiner selbst, obwohl sie spielen und die Welt genießen wollen.

77

Iam nunc in presentia presulus beati secundum dominici regulam madati

Jetzt schon soll der in Gegenwart des glücklichen Bischofs nach der Richtschnur des Gebots des Herrn

79

mittat in me lapidem neque parcat vati, cuius non est animus conscius peccati.

einen Stein auf mich werfen und nicht den Dichter schonen, dessen Herz sich keiner Sünde bewusst ist.

81

Sum locutus contra me, quicquid de me novi, et virus evomui, quod tam diu fovi.

Ich habe gegen mich gesprochen, alles was ich von mir weiß, und ausgespien das Gift, das ich so lange förderte,

83

vita vetus displicet, mores placent novi; homo videt faciem, sed cor patet Iovi.

mein altes Leben misfällt mir, die neuen Sitten gefallen mir; der Mensch sieht das Gesicht, Jupiter aber sieht offen das Herz.

85

Iam virtutes diligo, vitiis irascor, renovatus animo spiritu renascor;

Schon liebe ich die Tugenden, den Lastern bin ich erzornt, mit neuem Herzen werde ich im Geiste wiedergeboren;

87

quasi modo genitus novo lacte pascor, ne sit meum amplius vanitatis vas cor.

gleich einem neugebornen Kind ernähre ich mich mit neuer Milch, damit mein Herz nicht länger das Gefäß der Eitelkeit sei.

89

Electe Colonie, parce penitenti, fac misericordiam veniam petenti,

Erwählter Kölns, schone den Bereuenden, schenke dein Erbarmen dem, der um Verzeihung bittet,

91

et da penitentiam culpam confitenti; feram, quicquid iusseris, animo libenti.

und gib dem, der seine Schuld bekennt, Reue; mit freudigem Herzen werde ich ertragen, was auch immer du befiehlst.

93

Parcit enim subditis leo, rex ferarum, et est erga subditos immemor irarum;

Es schont nämlich die Untertanen der Löwe, der König der Tiere, und gedenkt nicht seines Zorns gegen die Untertanen;

95

et vos idem facite, principes terrarum: quod caret dulcedine, nimis est amarum.

dasselbe tut auch ihr, ihr Herrscher dieser Erde: was der Milde ganz entbehrt, allzu bitter ist's.



Kapitel 222

Ego sum abbas Cucaniensis et consilium meum est cum bibulis et in secta Decii voluntas mea est, et qui mane me quesierit in taberna, post vesperam nudus egredietur et sic denudatus veste clamabit: "Wafna, wafna! Quid fecisti, sors turpassima! Nostre vite gaudia abstulisti omnia!"

Ich bin der Abt von Kukanien (Schlaraffenland), meine Ratsversammlung ist mit den Saufkumpanen, im Orden des Decius ist meine Wohlgeneigtheit, und wer mich frühmorgens im Wirtshaus sucht, der wird nach dem Abendgebet nackt hinausgehen. Und so wird er der Kleidung beraubt schreien: "Zu den Waffen! Alarm! Was hast du gemacht, du äußerst schändliches Schicksal?! Du hast alle Freuden unseres Lebens geraubt!"

Quelle des lateinischen Textes: Daten.digitale-sammlungen.de
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